Außerhalb der männlichen Norm - Sabine Oertelt-Prigione, wieso hilft Gendermedizin uns allen?
Wie weit ist die Medizin wirklich, wenn es darum geht, Geschlecht und Vielfalt zu berücksichtigen? Prof. Sabine Oertelt-Prigione, Expertin für geschlechtersensible Medizin, spricht im Podcast “Heilewelt” über den Status quo, innovative Lehrmethoden und ihre Vision einer Medizin, die Menschen in ihrer Individualität optimal behandelt.
Pia: Hey wir produzieren jetzt seit etwas mehr als einem Jahr für euch monatlich Heilewelt Folgen im neuen Format. Das ganze machen wir für dich und deswegen würde es uns wahnsinnig helfen zu wissen, wie du das ganze iegentlich findest und wer du eigentlich so bist. Wir haben deswegen eine kleine Umfrage entworfen und du würdest uns mega weiterhelfen unser Format noch ein kleines bisschen besser zu machen, wenn du uns deine Meinung kurz da lässt. Den Link dazu findet ihr in den Shownotes und jetzt gehts los mir der Folge!
(Intromusik im Hintergrund)
Hi, willkommen zu einer neuen Folge von Heilewelt, dem Podcast über positive Zukunftsvisionen in der Medizin. Ich bin Pia, Ärztin und spreche hier mit den Menschen, die die Medizin nicht nur verbessern möchten, sondern es bereits tun. In unseren Gesprächen tauchen wir in die Welt medizinischer Vorreiter:innen ein und hören für welche Visionen sie brennen. Stellt euch eine Welt vor, in der Menschen zu ihrer Ärzt:in gehen können und individualisiert behandelt werden, zum Beispiel Medikamente für sie abgestimmt, verordnet werden und sie so angesprochen werden, dass sie sich für ihre Gesundheit optimal verhalten. An dieser heileren Welt arbeitet Professorin Sabine Oertelt-Prigione, sie ist Professorin für Geschlechtersensible Medizin an der Uni Bielefeld und auch an der Uni Nijmegen in den Niederlanden und sie hat den Lehrstuhl an der Uni Bielefeld als zweiten Lehrstuhl für Geschlechtersensible Medizin in Deutschland überhaupt selbst aufgebaut und arbeitet jetzt seit 2021 daran, deutschen Studierenden für Gesundheitsberufe die verschiedenen Aspekte von Geschlecht und Medizin näher zu bringen und das übrigens mit ziemlich spannenden Kursformaten, wie zum Beispiel Design-Thinking Prozesse, die das beinhaltet oder transintergeschlechtliche Personen einzuladen und dann mit Frag-mich-alles Formaten den Studierenden die Inhalte näher zu bringen. Nach unserer Folge mit Dr. Amma Yeboah über die Grundlagen und Hintergründe der geschlechtssensible Medizin, wollte ich jetzt von Sabine Oertelt-Prigione vor allem wissen, wo wir aktuell gerade stehen, wie wir unsere Wissenslücken am besten schließen können, wie wir unsere Erkenntnisse, die wir haben, in die Praxis kriegen und welche Visionen sie hat für die Medizin, diese weiter geschlechtssensibel auszurichten.
Sabine Oertelt- Prigiones optimistische und realistische Art als wirklich total ansteckend gewesen. Nach unserem Gespräch habe ich mir gewünscht, nochmal ins Studium zurück zu skippen und ihre Kurse in der Uni Bielefeld besuchen zu können. Vielleicht geht es euch nach der Folge ja genau wie mir.
Hallo Sabine, wie war dein Tag bisher? Wo kommst du gerade her? Voll schön, dass du da bist und wir hier heute zusammen sprechen können.
Sabine: Ja, ich hatte schon ein paar Termine, aber nicht so ganz viele, die meisten online. Ich bin aktuell in den Niederlanden, nicht in Bielefeld, sondern in meinem Arbeitsplatz in den Niederlanden, arbeite heute von zu Hause.
Aber ja, das Wetter ist schlecht, aber okay, das gehört auch dazu und sonst soweit alles gut.
Pia: Perfekt, dann machen wir es heute uns gemütlich und sprechen ein bisschen über diese super wichtigen Themen. Vielleicht kannst du einmal sagen, wie du zu dem Thema geschlechtssensible Medizin gekommen bist oder ob das Thema vielleicht auch zu dir gekommen ist?
Sabine: Eher zweiteres, auch weil ich würde mal sagen, vor so rund 20 Jahren hat man sich das nicht unbedingt ausgesucht und bin echt total zufällig dazu gekommen.
Ich wollte eigentlich was ganz anderes machen, ich wollte Truppenmedizinerin werden und wollte da eigentlich ganz, ganz andere Dinge machen. Und dann wurde mir vorgeschlagen, einen Postdoc in den Vereinigten Staaten zu machen. Das war Beginn der 2000er und eigentlich hatte ich das gar nicht so vor, aber dann dachte ich mir, naja, das ist auch nicht so schlecht, nimmt man einfach mit, das probieren wir jetzt mal aus.
Und dann bin ich drei Jahre in die Vereinigten Staaten gegangen und dort habe ich dann mich mit Unterschieden bei Autoimmunerkrankungen befasst und tatsächlich Geschlechterunterschieden bei Autoimmunerkrankungen, weil diese Autoimmunerkrankungen unterschiedlich verteilt sind und dementsprechend ist die Frage immer so ein bisschen, wo kommt es her? Und so bin ich eigentlich zufällig zu dem Thema gekommen, bin dann zurück nach drei Jahren zurück nach Italien damals, habe dann meine fachärztliche Ausbildung abgeschlossen und habe dann aber auch diese Geschlechterunterschiede, die wir ja auch in der Praxis sehen, die wir auch im Alltag sehen, aber irgendwie nicht so definieren oder wahrnehmen. Und ich meine, ich rede hier von vor 20 Jahren, sind mir dann halt einfach noch mehr aufgefallen. Also das blieb dann auch so ein bisschen noch in dem klinischen Teil.
Und dann wollte ich eigentlich mich auch so ein bisschen mehr mit systemischen Fragen befassen. Also ich finde den klinischen Alltag sehr, sehr schön, aber irgendwie läuft man immer gegen dieselben Probleme an und denkt sich dann irgendwann, naja, eigentlich ist es doch auf einer höheren Ebene, wo die Dinge schieflaufen, das muss ich jetzt erstmal besser verstehen. Das heißt, ich hatte dann auch noch ein Interesse an Public Health, weil ich einfach diese Dimension besser verstehen wollte.
Ja, und dann kam das irgendwie zusammen. Dann bin ich nach Berlin gezogen damals, habe angefangen, am Institut für Geschlechterforschung in der Medizin zu arbeiten, weil ich mir dachte, das passt ja eigentlich super zu dem, was ich vorher gemacht habe. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt.
Es gab auch nicht wirklich viele Stellen, wo ich es machen konnte und habe dann parallel das Master in London gemacht und habe somit auch noch diese, würde man sagen, ein bisschen mehr sozialwissenschaftlichen Aspekte, vor allem so Genderaspekte mitgenommen. Und so kam das dann irgendwie alles zusammen. Ja, und wurde dann halt immer mehr ein Thema und natürlich hat sich das Thema in der Zwischenzeit auch weiterentwickelt.
Also es war wirklich eher so zufällig da rein stolpern und dann blieb es halt irgendwie auch. Und es hat natürlich gewisse Punkte, die ich spannend finde, so diese ganzen, würde auch sagen, sozialen, politischen Aspekte, die da mitkommen. Ich habe während des Studiums schon in einer NGO gearbeitet, die sich um Gesundheitsversorgung von illegalisierten Migranten gekümmert hat.
Ich hatte in der Zeit in Berlin – hab ich in einer NGO gearbeitet, die sich mit Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen beschäftigt - also ich hatte auch immer so diese sozialen Aspekte und Themen dabei und das spielt ja hier auch eine große Rolle. Und das war eigentlich auch das, was mich daran gereizt hat, dass man ja auf der einen Seite sowohl, wenn man will, sich mit ‚rein biologischen Fakten‘ befassen kann und auf der anderen Seite kann man sich wirklich sehr stark mit systempolitischen Aspekten die das Gesundheitssystem beeinflussen und alles dazwischen - und das ist eigentlich das, was mir daran dann auch Spaß gemacht hat, wirklich die Tatsache, dass es halt sehr, sehr breit ist und meines Erachtens auch breiter als viele andere Themen im biomedizinischen Bereich. Und so bin ich dann einfach dageblieben und ging das halt weiter.
Pia: Zum Glück, du hast ja jetzt in Bielefeld auch einen Lehrstuhl aufgebaut, wie du erzählt hast. Berlin ist ja so ein bisschen vielleicht die Ursprungszelle oder die Wiege von der deutschen geschlechtssensiblen Medizin, aber das resoniert total, was du gesagt hast mit mir, weil ich auch das Gefühl habe, Medizin kann man eigentlich nicht ohne diese ganzen gesellschaftlichen Komponenten denken und das passt da auf jeden Fall total rein. Du hast mal in einem Interview gesagt, dass du inzwischen nicht mehr so häufig erklären musst, warum wir jetzt eigentlich geschlechtssensible Medizin brauchen, was mich schon mal sehr gefreut hat, dass wir an diesem Punkt sind. Nichtsdestotrotz habe ich nochmal den Eindruck, dass es doch noch von manchen als überflüssig oder auch so als Frauenmedizin abgestempelt wird.
Kannst du nochmal so als kleinen Recap am Anfang sagen, wieso sollten wir die Medizin aus einer geschlechtssensiblen Brille betrachten, was bringt uns das vielleicht auch allen?
Gesundheitsversorgung neu denken: Warum ein geschlechtersensibler Blick unerlässlich ist
Sabine: Ja, also wir kommen ja sicherlich auch nochmal auf die Details zurück. Es gibt Unterschiede in sicherlich auch der Symptomatik, in der Entstehung von Erkrankungen, in der Reaktivität auf Arzneimittel, aber es gibt ganz viele Unterschiede vor allem auch im Zugriff auf gesundheitliche Leistungen, ob man überhaupt zum Arzt oder zur Ärztin geht, ob man ernst genommen wird, welche Aspekte dabei auch, welche Symptome ernst genommen werden, welche Therapie vorgeschlagen wird, welche Diagnostik und so weiter. Das ist wirklich ein Zusammenkommen von vielen verschiedenen Aspekten, die verbunden mit Geschlecht und mit dem, was wir mit Geschlecht verbinden und darauf auch projizieren, eben dazu führen, dass Menschen einfach nicht gleich oder gleich gut behandelt werden.
Und da spielt natürlich nicht nur Geschlecht eine Rolle. Mittlerweile ist es ja so, dass wir es auch weiter denken, dass es Geschlecht auch in Verzahnung mit vielen anderen Aspekten ist, mit Alter, mit sozialer Lage, mit Migrationshintergrund oder Abwesenheit davon, mit sexueller Orientierung und so weiter. Und all diese Faktoren, die kommen natürlich dann noch zusammen und führen dazu, dass Menschen einfach unterschiedlich a priori schon eingeschätzt werden und dementsprechend eine unterschiedliche Gesundheitsversorgung zum Teil angeboten wird oder vorgeschlagen wird.
Und dazu kommen dann, wenn es jetzt zum Beispiel um geschlechtersensible Medizin geht, natürlich auch noch eine gewisse Anzahl von biologischen Unterschieden, die dabei noch mit reinkommen. Also es ist nicht rein Vorurteile und Stereotypen, die hier eine Rolle spielen, obwohl die eine große Rolle spielen. Aber dann kommt da zusätzlich, kommen dann auch noch eine ganze Anzahl von biologischen Faktoren, die eben auch noch zu unterschiedlicher Ausbringung von Erkrankungen, von Symptomatik und von Therapieresponse führen können.
Also das kommt dann alles zusammen, was letztendlich dazu führt, dass es eben zu einer individualisierteren Behandlung eigentlich kommen sollte und müsste. Und diese individualisierte Behandlung ist eben nicht nur - wir gucken uns kurz die Genetik von einer Person an und dann wissen wir, was wir machen müssen - so einfach ist das nicht.
So einfach ist die individualisierte Medizin, wenn wir sie wirklich betreiben wollen, nicht, sondern es geht tatsächlich darum, natürlich auch diese Aspekte mitzunehmen -also ich will jetzt nicht sagen, dass es nicht helfen kann, wenn man da gewisse genetische Informationen hat -aber vor allem geht es darum, die Menschen einfach nochmal in ihrer Komplexität gesamt zu sehen und das einfach mitzunehmen.
Und da ist meines Erachtens der geschlechtersensible Ansatz unabdingbar und vielleicht auch ein erster Schritt, der dann eben auch erweitert werden sollte.
Pia: Kannst du nochmal ganz konkrete Beispiele nennen, dass man das vielleicht so ein bisschen handlicher verstehen kann?
Sabine: Genau. Also ich würde jetzt sagen, ich rede jetzt mal nicht über Herzinfarkte.
Also ich glaube, das ist so das Einzige, wo ich mittlerweile wirklich mutmaßen würde, dass es in der allgemeinen Bevölkerung beinahe besser angekommen hat, als bei meinen Kolleginnen und Kollegen.
Pia: Wenn nicht, könnt ihr es einfach kurz googeln, dann wisst ihr, was wir meinen.
Sabine: Genau, genau. Aber ich würde auch sagen, es ist so ein bisschen das Paradebeispiel. Aber es gibt ja viele Erkrankungen, bei denen einfach die Symptomatik am Anfang auch unterschiedlich ist, sei es zum Beispiel bei neurologischen Erkrankungen, bei denen jetzt zum Beispiel, wir haben uns in letzter Zeit viel mit Morbus Parkinson befasst. Da ist zum Beispiel die Symptomatik am Anfang, wenn die Erkrankung noch nicht so lange besteht, bei Männern und bei Frauen unterschiedlich.
Männer haben sehr häufig dieses Problem, dass sie zum Beispiel, wenn sie laufen, ins Stocken kommen und dann plötzlich nicht mehr weiterlaufen können, das heißt so wirklich festfrieren, in Anführungszeichen. Das ist sehr selten bei Frauen. Bei Frauen ist ganz häufig am Anfang erstmals Zittern sehr, sehr ausgeprägt.
Und erst später ändert sich das dann so. Dazu kommt zum Beispiel sowohl bei Morbus Parkinson als auch bei Morbus Alzheimer zum Beispiel die Tatsache, dass häufig die psychische Ausprägung in Anführungszeichen anders, ich würde mal sagen, anders berichtet wird, vor allem auch von den Patient:innen. Das heißt, ganz häufig werden die erst mal als depressiv eingestuft, obwohl sie in Wirklichkeit eigentlich Parkinson oder Alzheimer haben und vielleicht zusätzlich eventuell irgendwann auch eine Depressivität entwickeln. Aber ganz häufig werden die erst mal als depressiv abgestempelt und erst nach einiger Zeit, nach einigen Jahren manchmal stellt sich dann heraus, dass es eigentlich eine neurologische Erkrankung noch zusätzlich gibt, die einfach nicht diagnostiziert worden ist, während das bei Patienten, bei Männern sehr selten passiert. Also da ist eine so eine Diagnose von Depression ist da eigentlich sehr selten davor.
Es gibt bei vielen anderen Erkrankungen auch, wenn wir jetzt zum Beispiel an Asthma denken, bei Asthma ist es so, wir fragen die Kinder meistens, weil häufig wird es ja im Kindesalter diagnostiziert. Da fragen wir die Eltern oder die Kinder selber, ob sie jemals typische Symptome hatten, gerade so Giemen, asthmatische Anfälle sind sehr typisch bei Jungen. Bei Jungen, bei Mädchen ist es häufig so, dass sie zum Beispiel nur nächtlichen trockenen Husten haben und vielleicht gar nicht dieses typische Giemen haben.
Pia: Also Giemen ist so ein Atemgeräusch quasi zum Pfeifen.
Sabine: Genau das. Es ist dieses wirklich, wenn sich die Atemwege verschließen und es dann so pfeift. Und das ist wirklich etwas, was die Mädchen und die Eltern vielleicht gar nicht berichten, was dann in der Vergangenheit auch dazu geführt hat, dass die Diagnose vielleicht später erst gestellt worden ist, weil man gar nicht daran gedacht hatte. Da hat man vielleicht erst mal gedacht, das ist ein Infekt oder so und hat erst mal therapiert auf Infekt hin, was es dann gar nicht war.
Und dann das, das sind jetzt Erkrankungen, bei denen es wirklich um Symptomatik geht. Es gibt auch beim Screening gibt es Unterschiede. Mein Paradebeispiel ist dabei die Osteoporose. Da denken wir natürlich bei postmenopausalen Frauen, vermuten wir immer, dass es zu Osteoporose kommen könnte, muss nicht sein. Aber deswegen werden die postmenopausalen Frauen ja auch regelmäßig gescreent, wird in der Krankenkasse bezahlt. Bei Männern ist es so, naja, 30 bis 40 Prozent der Männer, der Männer über 65, 70 haben auch Osteoporose, aber das allgemeine Screening, wenn sie keine Risikofaktoren haben - also wenn sie Risikofaktoren haben, schon, aber sonst nicht - ist immer noch nicht flächendeckend angeboten. Und ich meine, das ist jetzt eine Erkrankung, die auch jeden dritten, wenn nicht sogar bald jeden zweiten Mann ab einem gewissen Alter betrifft. Dasselbe gilt für andere Screening-Methoden.
Jetzt zum Beispiel bei Diabetes ist es so, der nüchterne Blutzucker, wenn wir normale Blutuntersuchungen machen, wird ja immer der Blutzucker auch mitgemessen.
Davor darf man nichts essen. Funktioniert ziemlich gut in der Diagnose von der frühen Phase von Diabetes. Bei Männern funktioniert es gut, viel weniger gut, bei Frauen, weil die, ich würde mal sagen, metabolisch am Anfang noch eine gewisse Kompensation haben, vor allem in der frühen Phase des Diabetes.
Das heißt, da muss man wirklich einen funktionalen Test machen. Also die Frauen müssen tatsächlich so eine Zuckerflüssigkeit trinken und danach misst man einfach, wie sich der Blutzuckerspiegel verändert nach einer Stunde oder zwei. Das ist da viel aussagekräftiger als der nüchterne Blutzucker, der aber so der Standard-Test ist.
Also das zeigt auch, dass es, wenn es zur metabolischen Entwicklung, zur physiologischen Entwicklung von diesen Erkrankungen geht, also ganz häufig ist es ja so, Erkrankungen entwickeln sich ja über eine ganze Zeit, in der wir vielleicht noch gar nicht wissen, dass das gerade passiert. Und dann irgendwann werden sie symptomatisch, also irgendwann äußern sie sich dann mit allerlei verschiedenen Symptomen. Und ich würde tatsächlich mutmaßen, dass besonders in dieser frühen Phase, wo sich die Erkrankungen entwickeln, bis sie dann wirklich manifest werden, bis sie dann wirklich zu Symptomen kommen, die man dann auch berichten kann, dass es da vermutlich viel mehr Unterschiede gibt, als wir denken.
Und dass letztendlich, wenn eine Krankheit dann vollkommen ausgeprägt ist, also mit ihrem gesamten Symptomkomplex, dass es dann da vielleicht auch ein bisschen weniger Unterschiede gibt. Aber gerade in dieser Phase, die da hinführt, sehen wir auch bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen zum Beispiel -ja, es gibt ähnliche Enderkrankungen, in Anführungszeichen, aber der Weg dahin, der ist zum Teil unterschiedlich. Und ich glaube, das ist eigentlich auch wirklich etwas, was in Zukunft dann noch relevanter werden wird.
Auch diese Unterschiede in den Symptomen sind vielleicht zum Teil auch einfach, weil der Weg zur Erkrankung etwas unterschiedlich ist, sich im Körper ein bisschen anders ausprägt. Das heißt, in den frühen Phasen äußert sich das ein bisschen anders. Letztendlich, wenn die Erkrankung dann da ist, sind die Unterschiede, denke ich, etwas geringer.
Aber besonders der Weg dorthin, denke ich, ist vor allem relevanter.
Pia: Ja, und das ist ja super relevant wiederum, weil viele Therapien ja darauf abzielen, die Krankheit in ihrem Progress, also in ihrem Fortschreiten, zu stoppen oder zu verlangsamen. Und dafür wäre es wirklich wichtig, solche Sachen auch relativ früh den Diagnosestempel draufsetzen zu können quasi.
Kannst du noch ein bisschen was zu Therapie sagen, warum es auch da wichtig ist, dass wir uns das mit der geschlechtersensiblen Brille angucken?
Jenseits der Binarität: Hormone, Stoffwechsel & mehr
Sabine: Ja, also wir haben jetzt aktuell in den Medien so manchmal auch die Forderung, alle Therapien sollten für Frauen angepasst werden. So einfach ist es leider nicht. Ich glaube, das ist schon mal so ein wichtiger Punkt, weil da schwingt manchmal so ein bisschen mit, na ja, warum haben wir es denn alles nicht gemacht? Warum haben wir das denn ignoriert? Also ich denke, der Punkt ist folgender: Es ist so, dass es eine Anzahl von Unterschieden gibt physiologisch zwischen einem typisch männlichen und typisch weiblichen Körper. Und das beginnt mit unterschiedlicher Verteilung von Fett und Magermasse. Das hat mit zum Beispiel der Beweglichkeit von Darm und Magen zu tun. Also wie schnell sich der Magen entleert, wie schnell sich der Darm entleert. Das hat damit zu tun, wie die Leber vielleicht unterschiedlich funktioniert und unterschiedliche Enzyme darin sind, die unterschiedlich schnell Stoffe abbauen können oder auch unterschiedlich ausgeprägt. Also da gibt es wirklich biologische Unterschiede auch, die eben dazu führen können, dass Arzneimittel mehr oder minder schnell verstoffwechselt werden beziehungsweise die dazu führen kann, dass Arzneimittel mehr oder minder lang jetzt zum Beispiel in der Blutbahn bleiben und dementsprechenden Effekt haben.
Also das sind die grundsätzlichen Aspekte. Die sind aber wiederum relativ individualisiert. Also es gibt so in großen Gruppen, kann man sagen, es gibt diese Unterschiede.
Aber dann ist es so, dass natürlich bei jedem von uns es auch nochmal unterschiedlich ausgeprägt ist. Und es gibt eine ganze Anzahl von Faktoren, die da eine Rolle spielen.
Zum Beispiel Hormone. Gerade Geschlechtshormone spielen dabei eine große Rolle. Die können einerseits einen Effekt auf zum Beispiel die Geschwindigkeit der Magen- und Darmentleerung haben. Die haben aber auch einen Effekt auf die Verstoffwechselung in der Leber zum Beispiel, weil viele der Geschlechtshormone konkurrieren gewissermaßen mit bestimmten Arzneimitteln, was dazu führt, wenn man eine hohe Anzahl von diesen Geschlechtshormonen hat, dann werden zum Beispiel die Arzneimittel langsamer verstoffwechselt. Jetzt ist es aber so, Geschlechtshormone fluktuieren, besonders wenn man zum Beispiel einen regulären Menstruationszyklus noch hat, beziehungsweise verändern sich auch, wenn man zum Beispiel die Pille nimmt oder Hormonersatztherapie oder Gender Affirming Care oder was auch immer. Also wenn man externe Hormone gewissermaßen nimmt, die spielen eine Rolle. Fluktuieren aber im Laufe des Tages.
Das heißt, mit der Zeit - macht es alles ein bisschen komplexer. Was ist dann grundsätzlich dabei wichtig? Dass in der Vergangenheit hat man diese Aspekte weniger, würde ich mal sagen, berücksichtigt oder zum Teil auch gar nicht und ist sehr häufig davon ausgegangen, dass eigentlich eine Standarddosis für alle mehr oder minder funktionieren sollte. Das stimmt auch bei manchen Arzneimitteln, bei anderen nicht unbedingt.
Wir wissen jetzt beispielsweise, Antibiotika zum Beispiel oder Chemotherapika, die werden jetzt schon angepasst auf zum Beispiel Nierenfunktion oder Körpergröße. Aber grundsätzlich ist bei vielen Arzneimitteln ist es ja so, dass wir eine Standarddosis haben und diese Standarddosis, in vielen Fällen ist die auch okay, würde ich jetzt mal sagen, aber es gibt auch eine ganze Anzahl von Fällen, wo im Durchschnitt sie zu einer Über- oder Unterdosierung führen können. Normalerweise ist es so, dass aufgrund von Körperunterschieden, sei es in der Verstoffwechslung, sei es in der Größe, Fett und Magermasse und so weiter, Frauen tendenziell etwas überdosiert werden und Männer tendenziell etwas unterdosiert werden.
Das jetzt mal ganz grob, hat dazu geführt, dass vor allem bei Arzneimitteln, die ausschließlich an Männern erprobt worden sind, das geht heute fast nicht mehr, das sage ich jetzt mal ganz, ganz klar, weil das manchmal auch ein bisschen falsch verstanden wird. Bis Anfang der 90er-Jahre waren Frauen tatsächlich aus klinischen Studien ausgeschlossen, aber seit Beginn der 90er-Jahre gibt es meistens eine Verpflichtung, Frauen einzuschließen.
Pia: Das ist doch gut, da will ich auf jeden Fall auch gleich nochmal kurz mit dir darüber sprechen.
Sabine: Ja, aber das ist ein wichtiger Punkt, weil ich höre immer mal wieder Forderungen, Frauen dürfen nicht ausgeschlossen werden. Frauen werden heute grundsätzlich nicht mehr aus klinischen Studien ausgeschlossen, das ist aber nicht unbedingt die Lösung von allem. Aber prinzipiell bedeutet das, dass natürlich in den Studien früher, als Frauen nicht eingeschlossen war, hatte man diese Daten nicht, danach hatte man Daten - das Problem ist, dass wir selbst heute zum Teil noch einen geringeren Einschluss von Frauen haben als Männer. Das kann ein Problem sein, wenn wir dann vor allem hinterher rechnen und vielleicht die Gruppengröße nicht groß genug ist. Aber grundsätzlich würde ich mal sagen, führt es zu einem Einschluss.
Das Problem liegt heute häufig noch ein bisschen später. Das Problem ist gar nicht unbedingt der Einschluss, obwohl das manchmal auch noch die Gruppengrößen zu klein sind. Das Problem liegt heute häufig an den Analysen, weil was wir uns eigentlich wünschen würden, wäre bei jedem Arzneimittel, das getestet wird, dass man grundsätzlich weiß, gibt es Unterschiede in der Wirksamkeit und gibt es Unterschiede bei Nebenwirkungen.
Weil wie ich vorhin gesagt habe, wenn wir wirklich ganz durchschnittlich sprechen, ist das Risiko für Frauen überdosiert zu sein etwas höher und für Männer unterdosiert zu sein etwas höher. Überdosis führt meistens zu Nebenwirkungen. Also um das jetzt mal ganz platt zu sagen.
Pia: Ja, jedes Medikament hat Wirkungen und dann auch mehr Nebenwirkungen.
Sabine: Das heißt, dieses Risiko besteht grundsätzlich, ist auch so, wenn wir uns die Daten angucken. Das heißt, das ist eigentlich ein ganz wichtiger Punkt.
Das Problem ist, bei vielen Studien haben wir diese Informationen aber nicht. Und das ist eigentlich so ein bisschen der Knackpunkt heute. Nicht mal unbedingt, dass Frauen in Studien eingeschlossen werden, sondern eher, dass wir danach wirklich eine gute Aufschlüsselung dieser Daten haben, in dem ganz klar gesagt wird, die Wirksamkeit ist gleich oder nicht gleich oder wie auch immer. Beziehungsweise es gibt unterschiedliche Nebenwirkungen. Wie sehen diese Nebenwirkungen aus? Wie sehen die Unterschiede aus? Ich meine, vielleicht ist es auch nur 10 Prozent Unterschied oder 15 Prozent. Das ist grundsätzlich nicht viel, aber ich muss es zumindest wissen, dass ich es meinen Patient:innen auch mitteilen kann.
Also solche Punkte sind da eigentlich, finde ich, viel relevanter aktuell, dass man wirklich da nochmal genauer erfährt, was spielt denn eigentlich jetzt da genau eine Rolle.
Und dann ist die Frage immer noch, muss man dann Arzneimittel anpassen oder nicht? Und ja, das ist, würde ich mal sagen, auch eine grundsätzliche Frage. Es gibt bei vielen Arzneimitteln, finde ich, nicht genügend Daten, um zu sagen, dass man grundsätzlich eine niedrigere Dosis jetzt für Frauen zum Beispiel empfehlen müsste.
Es gibt manche Arzneimittel, bei denen man weiß, dass sie anders verstoffwechselt werden, wo man einfach sagt, okay, starten wir mal niedriger. Es sind zum Beispiel bestimmte Beta-Blocker jetzt im kardiovaskulären Bereich.
Pia: Also Bluthochdruckmedikamente.
Sabine: Genau - aber grundsätzlich gibt es jetzt nicht so viele, würde ich mal sagen, Indikationen, wo man grundsätzlich sagen könnte, man halbiert die Dosis jetzt und Frauen kriegen einfach die Hälfte der Dosis. So weit sind wir noch nicht. Ich weiß auch gar nicht, ob wir bei vielen Arzneimitteln jemals so weit kommen können. Ich glaube, es ist grundsätzlich eher so, dass man mehr Daten braucht, um auch vorsichtiger sein zu können.
Dass man sagt, okay, das ist die Standarddosis. Das ist das Risiko. Das ist vielleicht auch nur bei zehn, 15 Prozent der Patient:innen, aber das ist eine Möglichkeit.
Das heißt, da noch mal besondere Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass nicht die Patientin dann fünfmal kommen muss mit irgendwelchen Nebenwirkungen, die einfach nicht ernst genommen werden. Also ich glaube, es ist eher das Umdenken, dass man einfach schneller zu einer Dosisanpassung auch kommt, anstatt da wirklich grundsätzlich bei vielen Arzneimitteln zu sagen, wir brauchen die halbe Dosis. Ob das die Lösung ist, wissen wir aktuell auch nicht.
Pia: Das ist ja jetzt auch ziemlich einfach gesagt. Aber wie du jetzt richtig gesagt hast, die Daten könnte man ja auch relativ einfach, sage ich mal, erheben oder auswerten. Erhoben werden sie ja meistens. Also in welcher Studie wird nicht gefragt, welches Geschlecht hast du - zum Ankreuzen oder in welcher Form auch immer. Also das ist ja an sich einfach nur eine Form der Auswertung. Ich glaube, ihr habt in Bielefeld auch mal eine Studie gemacht, wie viele Daten von den Hunderten und Tausenden Studien, die in der Covid-Zeit gemacht wurden, wie viele das einfach mit auswerten und wie viele halt leider nicht.
Sabine: Ja, und das war ein bisschen frustrierend, unter anderem, weil Covid eine Erkrankung war, wo vor allem in der Presse von Anfang an ständig über Geschlechterunterschiede diskutiert wurde. Es war wirklich auch mal eine interessante Erfahrung, würde ich sagen, für mich in dem Sinne, weil normalerweise interessieren sich die Leute jetzt nicht so wahnsinnig für Geschlechterunterschiede. Und das war wirklich ein Thema, wo von Anfang an in der Presse vor allem sehr stark darüber gesprochen wurde, Männer sterben mehr, Männer erkranken mehr, schwerere Verläufe und so weiter.
Also daher war das wirklich ein großes Thema. Und deswegen war das für uns auch so interessant, weil wir uns gedacht hatten, na ja, wenn das jetzt mal so stark in den Medien diskutiert wird, hat das auch einen Einfluss auf die Praxis. Und es zeigte sich in der Studie, dass von allen Arzneimittelstudien, die registriert wurden, beziehungsweise von allen Studien, das waren nicht nur Arzneimittelstudien, alle Studien, die registriert wurden, um irgendeine Form von Covid-Interventionen im weitesten Sinne durchzuführen - das waren über 4000, hat eine alle 20 angegeben, Geschlecht bei den Analysen berücksichtigen zu wollen.
Jetzt müssen wir aber dazu sagen, nicht alle Studien, die registriert werden, werden auch tatsächlich durchgeführt. Also es ist ja so, jedes Mal, wenn man eine klinische Studie macht, in welcher Form auch immer, muss man die vorher registrieren, weil man sagen möchte, das ist das, was ich mache. Damit hinterher die Leute auch sehen, man hat nicht irgendwie zur Hälfte der Studie dann beschlossen, was ganz anderes zu machen, weil das wäre problematisch, nicht ethisch und es wäre auch nicht mehr nachvollziehbar. Also dementsprechend müssen alle Studien vorher registriert werden. Manchmal ist es aber so, vor allem in Covid-Zeiten war es ja so, es wurde sehr, sehr viel bedacht, weil jede Person, die in irgendeiner Form dazu beitragen konnte, wollte Lösungen finden. Das heißt, nicht alle diese Studien sind durchgeführt worden. Wir hatten uns damals in der Studie auch die Studien angeguckt, nur die Arzneimittelstudien, die publiziert waren schon zu Beginn Januar 2021. Und da war es dann so, dass eine alle fünf Studien in irgendeiner Form geschlechtsspezifische Analysen beinhaltet hat. Wir sind da sehr offen gewesen, also wenn irgendwas auch noch dazu stand, haben wir die mitgenommen. Wir sind da nicht sehr restriktiv gewesen. Wir haben in dem Sinne wirklich alle, die in irgendeiner Form was zu Geschlechterunterschieden berichtet haben, auch mitgenommen. Das waren dann aber eine alle fünf Studien. Was bedeutet, bei 80 Prozent der Studien waren immer noch keine geschlechtsspezifischen Analysen vorhanden. Und das waren nur die Arzneimittelstudien, bei denen man sagen würde, das sind auch die mit den striktesten Regeln, also mit den meisten Auflagen. Wenn die das nicht machen, bei vielen anderen Studien braucht man es dann gar nicht erwarten. Also es gibt ja im medizinischen Bereich nicht nur Arzneimittelstudien, sondern ganz viele verschiedene Interventionen. Wir haben uns die Arzneimittelstudien angeguckt und selbst da war es so, dass nur eine alle fünf Studien tatsächlich was zu Geschlechterunterschieden gesagt hat.
Wir haben auch die Studien mitgenommen, die gesagt haben, wir haben nach Geschlechterunterschieden geguckt, haben aber nichts gefunden. Also es ist nicht so, dass wenn gesucht wurde, aber nichts gefunden, dass wir das nicht mitgenommen haben, weil die Invention war ja da. Dementsprechend war das ja auch wichtig.
Und ich denke, das ist auch ein sehr wichtiger Punkt, dass wenn danach geguckt wird und nichts gefunden wird, das muss auf jeden Fall auch berichtet werden, weil es natürlich die anderen Forschenden und Kliniker:innen auch wichtig ist, zu wissen, okay, da ist zumindest danach geguckt worden und nichts gefunden worden. Das ist auch eine wichtige Information für mich.
Pia: Ja, total. Jetzt hast du ja schon ein paar Sachen so ein bisschen angedeutet, von wegen vor allem Analyse, wie können wir das gut in die Auswertung mit einbeziehen. Kannst du einmal so ganz grob sagen, wie könnten wir denn Forschung geschlechtersensibel aufbauen oder durchführen?
Warum auch ‚keine Unterschiede‘ eine wichtige Informationen sein können
Sabine: Ja, also ich glaube, der erste und grundsätzliche Punkt, der klingt eigentlich jetzt total banal, ist aber erstmal eine gewisse Aufmerksamkeit für das Thema überhaupt zu haben. Also von vornherein, wenn ich mir eine Studie ausdenke, schon das irgendwo präsent zu haben, dass Geschlechterunterschiede potenziell eine Rolle spielen können.
Da ist schon mal sehr viel dran geworden, weil ganz häufig ist es wirklich so ein Hintergedanke. Ganz am Ende sieht man dann vielleicht irgendwie in den Daten nach, ja, da gibt es ja auch einen Geschlechterunterschied und plötzlich möchte man sich das dann angucken. Dann hat man aber die Studie vielleicht nicht so aufgebaut, dass das machbar ist.
Dann ist es ein Problem. Also dementsprechend ist es schon mal wichtig von vornherein, wenn man eine Studie plant, sich überhaupt im Klaren darüber zu sein, Geschlecht könnte relevant sein. Also wie kann ich das dann auch in meiner Studie eventuell mitnehmen? Und das bedeutet dann grundsätzlich bei Einschluss in eine Studie, sich überhaupt erstmal Gedanken dazu zu machen, wie viele Männer, wie viele Frauen, vielleicht auch wie viele geschlechterdiverse Personen kann ich einschließen, je nachdem, wie groß die Studie ist, je nachdem, welche Fragen ich stelle. Wir haben gerade zu Menschen, die außerhalb des binären Mann-Frau fallen haben wir sehr, sehr wenig Daten. Und das ist eine Gruppe, die gerade in der jüngeren Bevölkerung enorm wächst. Wir haben wirklich einen großen Zuwachs der LGBTQ-Community, oder Menschen, die sich zumindest outen als LGBTQ.
Wir haben viel mehr nicht-binäre Personen. Das heißt, in Zukunft wird es auch sicherlich mehr ein Thema sein. Allein, wie spreche ich meine Patient:innen an, aber dann auch, wie wollen die behandelt werden und so weiter. Das heißt, das ist etwas, wo wir aktuell kaum etwas dazu wissen. Aber grundsätzlich erstmal die Frage, welche Gruppen möchte ich eigentlich einschließen? Wie erreiche ich die dann? Und dann auch zusammen mit den Statistikerinnen und Statistikern eine gute Fallzahlplanung machen. Wie groß müssen diese Gruppen überhaupt sein, dass ich danach auch eine gute Rechnung durchführen kann, die mir auch eine robuste Antwort liefern kann.
Weil das ist ja auch immer so ein wichtiger Aspekt. Bei Zellforschung, bei Tierforschung ist es häufig so, ich meine, die machen ja zum Teil Forschung mit drei, vier, fünf Zellkulturen, dass man zumindest männliche und weibliche Zellen drin hat, dass man bei den Mäusen zumindest Männchen und Weibchen drin hat. Also lauter solche Sachen kann man ja von vornherein schon mal überlegen und eben auch gucken, wie mache ich das am sinnvollsten.
Gerade was auch so Grundlagenforschungsexperimente angeht, ist ja häufig auch der Punkt, na ja, ich kann ja nicht alles doppelt so groß machen und empfehlen wir immer ja, du kannst es ja erstmal in einer kleineren Gruppe machen und gucken, gibt es überhaupt Unterschiede? Gibt es überhaupt irgendwelche Hinweise darauf, dass es Unterschiede geben könnte? Und wenn es die überhaupt nicht gibt, dann ist es auch vielleicht zu rechtfertigen, dass man es nicht macht, aber man sollte von vornherein erstmal gucken. Das ist so das, was ich mit der Aufmerksamkeit meine. Und dann bei klinischen Studien nach dem Einschluss gibt es - oder beim Einschluss gibt es natürlich allerlei verschiedene Aspekte, die man berücksichtigen muss.
Wir wissen, dass im Durchschnitt Frauen weniger häufig an klinischen Studien auch teilnehmen wollen. Also es ist nicht nur, dass sie weniger angefragt werden, das ist manchmal auch ein Problem, aber zum Teil, dass sie auch häufiger nicht teilnehmen wollen. Das ist auch eine Frage, warum ist das denn so? Ist das, weil wir sie anders ansprechen? Ist das, weil wir ihnen nicht Bedingungen bieten können, um an einer klinischen Studie teilzunehmen? Also da kommen dann auch noch gewisse Barriereaspekte rein.
Ist es, weil sie vielleicht andere Verpflichtungen haben? Wie auch immer. Das muss alles auch noch ein bisschen näher untersucht werden. Da gibt es aktuell auch einige Projekte, die laufen, jetzt nicht unbedingt bei uns, aber bei Kolleg:innen, die wir kennen, um einfach da nochmal genauer zu verstehen, wie motiviert man Menschen auch, an Studien teilzunehmen, dass wir eben auch eine gute Repräsentanz kriegen? Und dann, wir hatten vorhin schon über Analysen gesprochen. Es wäre natürlich sinnvoll, selbst wenn man keine Geschlechterunterschiede findet, ist es immer wichtig, diese Daten zur Verfügung zu stellen.
Das ist ja grundsätzlich so ein bisschen so eine Open-Access-Diskussion, dass man Daten überhaupt zur Verfügung stellen sollte, dass andere Personen sie dann auch zum Beispiel bündeln können, aus verschiedenen Studien Meta-Analysen durchführen können. Also, dass diese Daten überhaupt auffindbar sind, was ja sehr häufig immer noch nicht der Fall ist. Und dass diese Daten dann eben auch geschlechtsgetrennt auffindbar sind, dass man eben im schlimmsten Fall, wenn jetzt diese Studie zum Beispiel zu klein ist und nicht genügend Power hat, um da zu rechnen, dass man es vielleicht bündeln kann mit anderen Studien und damit was tun kann.
Also dementsprechend, diese Daten so zu charakterisieren, so zu labeln und diese auffindbar zu machen, dass andere Menschen da auch damit arbeiten können. Genau. Und vor allem, dass auch nicht Studien unendlich wiederholt werden, praktisch dieselbe Studie ein paar Mal gemacht wird, weil die Daten einfach nicht zur Verfügung gestellt werden.
Dann könnte man nämlich auch gewisses Forschungsgeld vielleicht sparen.
Das und dann natürlich in der Aufbereitung der Daten Geschlechteraspekte auch nochmal mit überlegen. Also, wenn man etwas gefunden hat, wo kommt es her? Was sind die nächsten Ansätze? Was ist notwendig? Welche Fragestellungen ergeben sich hier raus? Was ist klinisch relevant? Was ist vielleicht forschungstechnisch relevant? Und wie kann man dann sozusagen weitermachen? Also ich glaube, für den gesamten Zyklus ist es eigentlich wichtig, das sozusagen mitzudenken.
Und wie ich vorhin schon gesagt hatte, man muss nicht immer Geschlechterunterschiede finden. Also es ist nicht ein Muss. Es gibt auch Fälle, in denen es keine Geschlechterunterschiede gibt. Und das ist auch ganz wichtig, das eben auch darzustellen. Wir haben es untersucht, aber wir haben es nicht gefunden. Und dementsprechend ist es einfach so, das ist auch prima. Und es ist auch wichtig, das zu publizieren. Es ist schwieriger zum Teil, weil die Journals es weniger wollen. Aber es ist natürlich so, das müsste auch publiziert werden und auch kennbar gemacht werden, dass man eben auch weiß, okay, hier gibt es keine Geschlechterunterschiede. Ist untersucht worden, haben wir nicht gefunden. Ist auch prima, aber zumindestens wurde mal danach geguckt.
Pia: Ja, du hast jetzt schon einmal angesprochen so ein bisschen diese Diversität der Geschlechter. Wir hatten schon mal eine Folge zu geschlechtersensiblen Medizin gemacht. Das ist schon ein bisschen her. Und da haben wir auch gesprochen, dass es halt diese binäre Einteilung auch biologisch nicht so wirklich eigentlich Sinn macht.
Und du hast das ja auch schon mal vorhin so ein bisschen gesagt. Eigentlich kommt es viel mehr darauf an, wie es beispielsweise die Zusammensetzung von der Körpermasse, also wie viel Fettanteil habe ich oder wie sehr ist meine Zeit, wie Medikamente oder andere Dinge durch den Darm durchgehen. Kann man das in der Forschung abbilden? Oder das wird dem ja auch manchmal so ein bisschen gegenübergestellt. Oder sagst du, es ist der erste Schritt, muss jetzt erst mal sein, so grob zu sagen, wir werten das bezogen auf Geschlecht aus. Besser noch eben auch auf nicht binäre Personen. Und dann im nächsten Schritt gucken wir uns an: Wo liegen jetzt eigentlich diese Sachen, diese Unterschiede oder Nicht-Unterschiede begründet?
Gruppierungen in der Medizin: Sinnvolle Trennung oder künstliche Kategorisierung?
Sabine: Genau. Also ich denke, es ist ja, ich würde mal sagen, in der Forschung grundsätzlich ein pragmatischer Ansatz. Ich meine, idealerweise werden wir heute schon in der Lage, genau zu sagen, okay, das liegt an einer gewissen Hormonkonzentration und das liegt an einer gewissen Enzymkonzentration. Und ich messe einfach bei den Personen, vollkommen unabhängig von Geschlecht, wie hoch diese Konzentrationen sind. Und dann basierend darauf kann ich sagen, das Arzneimittel wird schneller oder weniger schnell verstoffwechselt. Das wäre sozusagen langfristig gesehen ein idealerer Ansatz.
Und ich gehe mal davon aus, dass es auch in der Zukunft sich mehr in die Richtung entwickeln wird. Ich würde mal sagen, Geschlecht ist ein Proxy in dem Sinne. Es ist eine relativ einfachere Einteilung, um überhaupt gewisse Gruppenbildung darzustellen.
Und natürlich ist es so, wie ich auch vorhin schon gesagt hatte, innerhalb dieser Gruppen gibt es auch große Varianzen. Also es gibt große Unterschiede auch zwischen den Personen in den Gruppen und auch einen gewissen Overlap zwischen den Gruppen. Und das ist aber grundsätzlich so ein bisschen die Statistik auch, mit der wir in der Medizin ja rechnen.
Ich meine, es ist bei den Gruppen ja immer so, auch wenn wir Patient:innen und Nicht-Patient:innen vergleichen, haben wir da häufig auch ein Overlap zwischen den zwei Gruppen und teilen die dann trotzdem gewissermaßen in zwei ein, um überhaupt erst mal grundsätzlich Hinweise zu bekommen, was könnte zur Krankheitsentstehung relevant sein. Ich glaube, so muss man das hier auch gewissermaßen sehen. Es ist eine statistische, künstliche Trennung gewissermaßen.
Aber wenn durch diesen Vergleich überhaupt erst mal klar wird, welche Mechanismen potenziell involviert sein können, dann können wir ja danach auch genau die Mechanismen untersuchen und vielleicht langfristig dann sagen, ja Moment, wir gucken uns noch den Mechanismus an und eigentlich ist Geschlecht in dem Sinne irrelevant. Und ich denke, das ist der wichtige Punkt. Ich glaube, der große Unterschied in der Medizin ist ja nicht unbedingt die Diversität nochmal wahrzunehmen. Der große Unterschied ist überhaupt erst mal zu bedenken, es gibt nicht ein Modell, sondern es gibt mindestens zwei. Ich denke, der große Schritt ist für viele Menschen erst mal dahin zu denken, ah Moment mal, ich habe nicht eine Gruppe, in der sind alle drin, sondern ich habe jetzt schon mal mindestens zwei und aktuell basiere ich diesen Unterschied auf Geschlecht. Dass es innerhalb dieser Gruppen da noch viel mehr Diversität gibt, dass wir es eigentlich noch viel mehr aufdröseln müssen und dass es eigentlich vermutlich auch nicht unbedingt zwei Gruppen gibt, sondern mehrere. Ich denke, der Schritt ist ein bisschen kleiner. Also die große Herausforderung, wenn man sich die biomedizinische Historie anguckt, ist wirklich erst mal zu sagen, es gibt nicht einen Menschen, der männlich ist wahrscheinlich und an dem machen wir alles fest, sondern es gibt erst mal mindestens zwei Optionen und diese Optionen sind wahrscheinlich noch viele mehr. Und ich denke immer so, wenn man den ersten Schritt gegangen ist, dann sind die anderen Schritte, werden dann ein bisschen einfacher, weil dann hat man sich ja schon mal damit auseinandergesetzt, es ist nicht ganz so einfach und es gibt viel Variabilität.
Und wie kann ich das abbilden in meiner Forschung, in meiner klinischen Praxis?
Pia: Ja, dieses Umdenken versucht ihr ja wahrscheinlich auch in euren Kursen an der Uni, unter anderem in Bielefeld, den Studierenden mit auf den Weg zu geben. Ich habe da auch mal so ein bisschen reingeguckt, welche Studien - ja nicht Studiengänge, aber welche Kurse oder welche Kursbeschreibungen ihr so habt und habe da auch wirklich total spannende Sachen gefunden, wie zum Beispiel irgendwie ‚Intersektionale und geschlechtsspezifische Faktoren von Gesundheit und medizinischer Versorgung im Lebensverlauf‘ oder ‚Für die Chancengleichheit wird das zweite X-Chromosom sowieso inaktiviert‘ oder auch einfach ‚Geschlechtssensible Forschung vom Sampling bis zur Publikation‘. Kannst du noch mal so ein bisschen sagen, wie ihr eure Lehre aufbaut oder wie die Kurse so ablaufen? Du hast mal in einem Podcast erzählt, das fand ich auch total spannend und war schon ein bisschen traurig, dass mein Studium schon vorbei ist, dass ihr auch so Kooperationen mit Startups habt, wo die Studierenden irgendwie Prototypen entwickeln, Fehler machen dürfen oder auch, dass ihr zum Beispiel Transpersonen einladet in die Veranstaltung, um dann in den Austausch zu gehen. Ja, das wollte ich auf jeden Fall auch noch von dir hören.
Startups, Design Thinking und neue Lehrformate in der geschlechtssensiblen Lehre
Sabine: Ja, also wir haben, ich würde mal sagen, wir sind in gewissermaßen in der Luxussituation, dass die Uni dem Thema sehr offen gegenübersteht und ich denke, das ist nochmal eine besondere Situation, also dass wir gewissermaßen strukturell da auch oder ideologisch so eine große Unterstützung haben, was uns natürlich die Möglichkeit gibt, da auch im Sinne der Curriculumsentwicklung einiges beizutragen. Es ist immer, denke ich, eine Herausforderung. Also wir machen Pflichtlehre. Wir sind zusammen mit der Charité auch die Einzigen, die das Thema in der Pflichtlehre verankert haben. Aber es sind natürlich immer zwei Ebenen.
Also das eine ist, was wir machen als AG, was wir sozusagen für Veranstaltungen den Studierenden anbieten und das andere ist in Anführungszeichen „die andere oder restliche Lehre“, wo man eben versucht, die Kolleginnen und Kollegen auch anzustupsen, dass sie das Thema auch mitnehmen. Das funktioniert manchmal sehr gut und manchmal minder gut. Also daran, das ist sozusagen der längere Prozess. Aber wir haben natürlich die Möglichkeit, viele Kurse von uns aus zu gestalten. Und wie du sagst, es ist wirklich so ein bisschen eine Bandbreite. Also wir machen von sehr stark jetzt auf Biologie ausgerichteten, zum Beispiel bei der Immunologie oder das jetzt gerade mit dem X-Chromosom -das ist im Rahmen von wissenschaftlichem Denken und Handeln. Da geht es wirklich um Methoden, um X-Chromosom-Verlust zu messen. Also wirklich so ganz, ganz grundlegende Sachen.
Aber dann machen wir natürlich auch Aspekte, die mehr auf Klinik orientiert sind. Wir müssen dazu sagen, wir sind in Bielefeld in der Entwicklung des Curriculums. Wir haben jetzt das erste bis siebte Semester. Das heißt, ich kann doch gar nicht sagen, was im achten, neunten, zehnten. Da haben wir uns auf Ideen dazu gemacht. Aber die gibt es noch gar nicht. Und sie werden aktuell auch noch weiterentwickelt. Aber bis dahin und dann kommen natürlich auch diese grundlegenden Punkte. ‚Intersektionalität‘, das ist ein Seminar, was wir in Zusammenarbeit mit der Medizingeschichte und Ethik machen.
Also da wirklich noch mal so Überlegungen auch, wie wie schätze ich eigentlich Patientinnen und Patienten ein? Also wie ist es jetzt zum Beispiel bei Menschen, die Substanzen gebrauchen? Je nachdem, welche Substanzen es sind und je nachdem, welche Personen es sind, werden die ganz unterschiedlich eingeschätzt. Also wenn wir uns jetzt Opioid-Epidemie angucken im Vergleich zu Crack in den 90er Jahren, im Grunde genommen, die Effekte waren nicht so unterschiedlich. Aber die Wahrnehmung, die gesellschaftlich ist ganz unterschiedlich. Was bedeutet das für uns als Ärztinnen und Ärzte, wenn wir uns mit sowas konfrontieren, solche Aspekte? Wie du gesagt hast, wir haben eine Veranstaltung, die wir zusammen mit Vertreterinnen, mit einem Verein, die inter- und transgeschlechtliche Personen vertreten, die laden wir tatsächlich dazu ein. Es ist eine interaktive und interprofessionelle Veranstaltung zusammen mit den Studierenden, auch aus den Pflegewissenschaften. Und das ist eigentlich so eine offene, frag mich alles, Veranstaltung machen wir im dritten Semester. Das heißt, die Vertreter:innen der Vereine, die erzählen erst mal so ein bisschen was dazu. Was ist Transgeschlechtlichkeit, was ist Intergeschlechtlichkeit? Und dann gehen die Studierenden in kleinere Gruppen, denken sich Fragen aus, die aus ihrer Perspektive relevant sind für die Praxis. Und dann haben wir eine Dreiviertelstunde, wo die Studierenden im Grunde genommen all diese Fragen stellen und die werden dann beantwortet in der Diskussion.
Das macht eigentlich immer viel Spaß, weil da auch interessante Dinge kommen. Und zum Teil ist es auch so, für manche Studierende ist es auch wirklich die erste Erfahrung, in der man ganz offen auch diese Fragen stellen kann. Was bedeutet es eigentlich jetzt, gesundheitliche Versorgung inklusiv zu gestalten für trans- und intergeschlechtliche Personen? Manchmal eigentlich überhaupt die Möglichkeit zu haben, da mal Fragen zu stellen.
Genau, sowas, das Startup-Seminar hat uns auch sehr viel Spaß gemacht. Leider wird das langfristig nicht weitergehen in dieser Form, sondern wir werden es ein bisschen ändern müssen, weil wir haben aktuell noch eine Kohorte mit 60 Studierenden, innerhalb von zwei Jahren werden wir über 300 haben. Das heißt, logistisch wird es ein bisschen schwieriger, das so umzusetzen. Und ich fand es auch ganz interessant, weil es immer ganz unterschiedlich aufgenommen worden ist. Wir hatten manche Studierende, die es total toll fanden. Es war im ersten Semester. Das heißt, manche Studierenden fanden es ganz toll und haben sich da auch wirklich gut engagiert. Ich habe aber auch immer wieder Rückmeldungen gekriegt. Ja, warum muss ich jetzt ein paar Stunden lang basteln, wenn ich eigentlich Anatomie lernen könnte? Also das fand ich auch schon mal interessant, wie unterschiedlich das ist. Ich meine, das ist natürlich zu Beginn des Studiums. Ich glaube, am Ende des Studiums denkt man da auch noch mal ganz anders drüber. Es war für uns aber auch wichtig, das so ganz am Anfang zu haben, um den Studierenden auch mal zu zeigen, es geht auch anders.
Es gibt auch unterschiedliche Karrierewege zum Beispiel, weil ich meine, nicht alle werden in der Klinik landen. Es gibt auch, man kann auch Fehler machen, man kann auch unterschiedlich denken. Man kann auch erst mal probieren und sich Zeit nehmen und Fehler machen. Das sind lauter Aspekte, die meines Erachtens extrem wichtig für den Beruf sind. Ich glaube aber zum Teil am Anfang noch nicht so ganz deutlich viele. Also das heißt, da waren auch immer unterschiedliche Wahrnehmungen, fanden wir auch immer ganz interessant.
Es hat trotzdem sehr viel Spaß gemacht auch, um mal was ganz anderes machen zu können. Wir werden es zum Teil, also gerade diese Design Thinking Methoden, die wir da genutzt haben, werden wir zum Teil auch weiter gebrauchen, jetzt in diesem neu entwickelten Curriculum, in dem wir unter anderem noch viel mehr Stunden kriegen. Das wird dann eine Herausforderung, aber wir freuen uns, weil wir viel mehr Lehrstunden noch bekommen werden, um das noch mal breiter aufzubauen. Aber ja, es ist interessant, weil es auch was anderes war und dementsprechend auch unterschiedlich aufgenommen wurde.
Pia: Ja, ich fand das wirklich spannend, weil du das so ein bisschen gesagt hattest. Man muss halt auch den ersten Schritt gehen und das fängt halt wirklich mit einem anderen Denken und einer anderen Wahrnehmung an.
Das wäre jetzt so ein bisschen der Punkt, wie kriege ich das in den Alltag integriert, wenn wir bei Studierenden oder einfach Menschen in der Ausbildung für Gesundheitsberufe anfangen? Was wären denn so andere Aspekte, wie wir so unsere Forschungsdaten, die wir jetzt gesammelt haben, in den Klinikalltag oder in die Medizin im Allgemeinen einbringen können?
Welche Gesundheitsversorgung wollen wir? Anwendungen und Pragmatimus
Sabine: Ich glaube, grundsätzlich ist es ja wirklich auch so, dass wir eine Art kritische Masse auch aufbauen müssen, von Studierenden und jungen Ärzt:innen, die einfach auch zu den Themen Bescheid wissen und das sozusagen auch verinnerlichen. Weil ganz häufig ist es ja so, im Alltag ist es sehr schwierig, vor allem, wenn man am Beginn der Karriere ist, die Strukturen, in denen man arbeitet, zu verändern. Das geht manchmal für kleine Aspekte, aber es ist sehr schwierig, gegebene Strukturen zu verändern.
Und ich meine, gerade die Medizin ist in dem Sinne jetzt nicht so besonders innovations- und veränderungsfreudig im Vergleich zu anderen Disziplinen. Wir finden Innovationen immer ganz toll, wenn sie irgendwelche Wearables oder Devices sind oder irgendein neuer Roboter, den man dann kaufen könnte für ein paar Millionen. Aber wenn es darum geht, die alltäglichen Prozesse zu verbessern, in Anführungszeichen „menschenfreundlicher“ zu machen für all diejenigen, die darin arbeiten und all diejenigen, die dadurch versorgt werden, das ist meistens nicht so die erste Priorität.
Und ich glaube, da geht es wirklich darum, erstens mal einen gewissen Mindset in den Leuten zu kultivieren. Und das ist auch während dem Studium schon gar nicht so einfach, weil wir kommen natürlich rein, wie ich gerade gesagt habe, mit einem gewissen Ansatz. Wir machen auch die Dinge zum Teil ein bisschen anders. Wenn 80, 90 Prozent der anderen Vorlesungen und Seminare aber nicht so sind, dann ist das natürlich auch immer, wie geht man damit um? Wie bringt man sowas mit? Wie entwickeln sich die Studierenden auch selber? Finden sie das wichtig oder nicht? Ich meine, das ist eine Repräsentanz der zukünftigen Ärzt:innenschaft. Aber immerhin wird das natürlich auch unterschiedlich aufgenommen. Also ich glaube, meines Erachtens geht es wirklich darum, eine gewisse Haltung, auch eine gewisse Aufmerksamkeit überhaupt mal für die Themen zu generieren.
Weil das ist ja das, was man immer mitnehmen kann. Und selbst wenn man die Strukturen nur bedingt verändern kann, hat man das aber für sich selber irgendwo internalisiert. Und ich glaube, das prägt auch die Art, wie man sich überhaupt mit Patientinnen und Patienten auseinandersetzt.
Und ich denke, das ist ein ganz wichtiger Punkt, weil der Alltag gibt gewisse Handlungen vor, gibt gewisse Abläufe vor, die man auch nur bedingt ändern kann. Aber man hat natürlich immer noch die Möglichkeit, sich selber mit Patient:innen und Patienten in der Kommunikation ganz unterschiedlich auch nochmal zu verhalten und diese Dinge mitzunehmen. Und dann langfristig gesehen ist es natürlich so, ich würde mal sagen, Arbeitsbedingungen ändern sich insgesamt.
Und ja, ich würde sagen, gerade in der jüngeren Generation sehen wir natürlich auch andere Themen, die kommen. Die Vereinbarkeit, die Frage, inwiefern ich wirklich eine Karriere machen will, wie die vor 30 Jahren Standard war und so weiter. Und ich glaube, all das, das kommt da aber auch noch dazu, weil diese grundsätzlichen Fragen, die haben ja auch mit einer Bewertung des eigenen Berufes, mit der eigenen Rolle, mit was ist das jetzt eigentlich für mich? Was habe ich da auch für Anforderungen an mich selbst und an den Arbeitsplatz? Geht das ja einher. Das heißt, ich denke im Grunde genommen, dieses Umdenken und diese Entwicklung einer bestimmten Haltung, die greift schon in einen grundsätzlich sich verändernden auch Work-Life-Prozess, aber grundsätzlich auch eine unterschiedliche Arbeitshaltung.
Das heißt, ich glaube, diese Dinge, die können schon auch verzahnt werden. Ich sage das jetzt, ich habe auch eine Ausbildung als Organisationsberaterin irgendwann mal gemacht. Nicht, weil ich Organisationen unbedingt beraten will, aber weil ich sie verstehen wollte.
Und ich denke, da gibt es schon auch Verknüpfungen zwischen der Art, wie wir denken, wenn wir jetzt geschlechter- und diversitätssensibel denken und der Art, wie wir arbeiten möchten. Da gibt es schon gewisse Verzahnungen auch, was einfach auch gute Arbeit bedeutet. Und das bedeutet nicht unbedingt wenig Arbeit.
Das bedeutet einfach eine Arbeit, in der ich mich wertgeschätzt fühle, in der ich mich selber auch investiert fühle, in der ich das Gefühl habe, ich kann auch was bewirken, ich mache auch was. Und ich glaube, das sind so grundsätzliche Fragen, die eigentlich die Themen auch verbinden. Das heißt, ich glaube, da gibt es noch ganz andere Möglichkeiten, um den Arbeitsalltag auch inklusiver zu gestalten, auch für die Arbeitnehmenden.
Pia: Ja, dann hoffen wir einfach, dass noch ein paar mehr Unis und Ausbildungsstätten in Deutschland geschlechtersensible Medizin auf dem Schirm haben, damit die neue Generation diesen Einfluss noch ein bisschen größer machen kann oder größere Wellen schlägt. Welche Entwicklungen erwartest du denn so, wenn du dir die geschlechtersensible Medizin gerade vielleicht in Deutschland anguckst in den nächsten zehn Jahren? Beziehungsweise was würdest du dir auch wünschen, was du vielleicht für nicht ganz so konkret realistisch hältst?
Sabine: Ja, also ich denke, es ist spannend aktuell. Weil auf der einen Seite haben wir eine Approbationsordnung, die irgendwann erneuert werden soll (lacht)- sie soll ja ‚27 kommen, who knows, wann die jetzt kommt. Aber es wird irgendwann eine neue Approbationsordnung geben, in der das Thema geschlechtersensible Medizin drinsteht als Gendermedizin. Der NKLM, der Nationale Lernzielkatalog für die Medizin, der wird aktuell auch wieder überarbeitet.
Da sind auch verschiedene geschlechtersensible Themen drin. Und das Institut für Pharmakologische und Medizinische Prüfungsfragen entwickelt auch schon irgendwelche Fragen für die ärztlichen Prüfungen, die geschlechtersensible Aspekte beinhalten. Also strukturell gesehen haben wir eigentlich eine ganze Anzahl von Weichen, die aktuell gestellt werden, die eigentlich darauf hindeuten, das Thema wird vermutlich in näherer Zukunft irgendwann mehr institutionalisiert.
Was bedeutet, dass die medizinischen Fakultäten das auch bedienen müssen. Das heißt, wir können, denke ich, davon ausgehen, dass mehr und mehr medizinische Fakultäten das Thema irgendwie, in irgendeiner Form, sei es jetzt in der Pflichtlehre, sei es durch Wahlfächer, wie auch immer, bedienen werden müssen, um einfach auch den Anforderungen für zum Beispiel eine neue Approbationsordnung gerecht zu werden. Das sind so die strukturellen Aspekte, die in dem Sinne helfen können. Dazu kommt natürlich, dass wir grundsätzlich weltweit einen politischen Rechtsdruck erleben.
Und der hat gerade was Themen wie Geschlechtergerechtigkeit, wie Diversität, Zugriffe auf das Gesundheitssystem und so weiter, hat jetzt nicht gerade Ideen, die besonders förderlich für geschlechtersensible oder diversitätssensible Medizin sind, weil das sind eher so Sachen, die können ja mal weg und warum brauchen wir die überhaupt. Das heißt, grundsätzlich gesehen ist es natürlich so, wir erleben aktuell, ich würde sagen wirklich weltweit, doch wieder einen Ruck in die Vergangenheit oder zumindest was diese Themen angeht. Aber ich kann mir auch schwerlich vorstellen, dass sie vollkommen weggehen werden.
Das ist für Geschlechterforschung insgesamt, in vielen anderen Fächern wird es sehr schwierig werden, denke ich. Für die geschlechtersensible Medizin, wir haben da noch mal ein bisschen Sonderstatus, weil wir halt auch diese biologischen Aspekte haben, die ein bisschen schwieriger aus dem Weg zu räumen sind, gerade wenn es jetzt zum Beispiel um Arzneimitteltherapie geht, um Unterschiede in der Symptomatik und so weiter. Das heißt, ich kann mir jetzt nicht vorstellen, dass die geschlechtersensible Medizin von heute auf morgen vollkommen verschwinden wird.
Aber ich kann mir vorstellen, dass vielleicht sehr stark wieder auf Biologie fokussiert wird und versucht wird, alles, was so soziale Aspekte angeht, doch weniger- schwieriger zu machen. Alle LGBTQ-Themen werden sehr wahrscheinlich schwieriger werden. Versorgung von geschlechterdiversen Patient:innen wird vermutlich nicht ein Hauptthema werden, obwohl, wie gesagt, wie ich vorhin gesagt hatte, in der Allgemeinbevölkerung, gerade in der jüngeren Generation, wird das eine immer größer werdende Gruppe, die natürlich dadurch auch eine stärkere Stimme entwickeln wird.
Also es bleibt in dem Sinne spannend, weil ich denke, auf struktureller Ebene haben wir bestimmte Bedingungen und Weichen, die eigentlich das Thema unterstützen sollten. Es ist viel Interesse bei den Studierenden da, aber wir haben gesamtgesellschaftlich aktuell, denke ich, große Herausforderungen vor uns stehen. Und das wird sich sicherlich auch auf die Medizin insgesamt niederschlagen.
Wenn allein im Sinne von, wer hat überhaupt noch Zugriff, unter welchen Bedingungen? Vor allem, wenn wir zukünftige Regierungen haben, die eher sparen wollen an Ausgaben für das Gesundheitssystem. Also dementsprechend denke ich, geht es nicht nur um geschlechtersensible Medizin.
Pia: Ja. Und gibt es Themen oder Fragestellungen, wo du das Gefühl hast, die haben wir jetzt vielleicht auch noch nicht so angesprochen, aber die würdest du dir so in der Debatte, in der breiten Öffentlichkeit auch wünschen, dass da die mehr in den Fokus genommen werden?
Sabine: Ich finde, das Thema ist ja aktuell sehr, sehr stark im Fokus gewesen. Auf der einen Seite finde ich das sehr positiv, weil es dadurch einfach auch mal in der in der breiten Masse angekommen ist, zum Teil ein bisschen vereinfacht. Das ist aus wissenschaftlichen Perspektiven aber so ein bisschen schwierig, weil man da so ein bisschen mit sich selbst hadert und so denkt- ja, aber das ist ja nicht so ganz schwarz-weiß. Aber grundsätzlich finde ich es einfach wichtig, dass es überhaupt so angekommen ist.
Also das, denke ich, ist schon mal gut, um diese Debatte zu befördern. Ich glaube, wir müssen uns grundsätzlich Fragen stellen, zu welcher Art von Gesundheitsversorgung wir wollen. Ich glaube, das ist eigentlich eine gesamtgesellschaftliche Frage, auch weil wir haben ein Gesundheitssystem, was doch immer noch auf gewisse Aspekte der Solidarität aufgebaut ist. Wir zahlen gewisse Mengen an Geld in Krankenkassen ein. Die Krankenkassen führen aber dazu, dass die meisten Menschen, fast alle Menschen in Deutschland, doch eine adäquate Gesundheitsversorgung haben können, was ein sehr, sehr hohes Gut ist, was aber vielen Personen gar nicht bewusst ist, was wir eigentlich im Grunde genommen für eine Ausgangsluxussituation haben. Und ich glaube, das ist eigentlich eine gesellschaftliche Debatte, die meines Erachtens für die nächsten Jahre doch relevant sein wird, ist, welche Art von Gesundheitsversorgung wollen wir insgesamt? Welchen Fokus? Wie können wir garantieren, dass gesamtgesellschaftlich wir einen relativ hohen Gesundheitsstandard erhalten können? Was bedeutet das aber auch für uns alle im Sinne der Herausforderung? Was können wir da machen? Gibt es überhaupt noch diesen Solidaritätsgedanken, der ja sehr stark durch bestimmte politische Akteur:innen auch aktuell infrage gestellt wird und zerstört wird, der aber für eine adäquate Gesundheitsversorgung der Bevölkerung grundsätzlich ist? Und dementsprechend, ich glaube, da wäre noch mal eine größere Debatte. Grundsätzlich, was wollen wir eigentlich für eine Versorgung? Wie garantieren wir für alle Personen eine adäquate und so gut wie mögliche Versorgung, die so diskriminierungsfrei wie möglich ist? Und ich glaube, das sind grundsätzliche Fragen.
Pia: Ja, jetzt würde ich gerne zum Abschluss einmal noch wissen. Also wir haben, glaube ich, eine sehr breite Themenfülle jetzt angesprochen.
Wenn du das trotzdem noch mal für dich sagen könntest, was wäre deine Utopie für die geschlechtersensible Medizin in der Zukunft? Wenn du dir das einfach wirklich wünschen dürftest, ausdenken dürftest, wie sieht die Zukunft aus, auf was arbeitest du hin?
Sabine: Ja, ich würde mir wünschen, dass in zehn Jahren, wenn Personen zum Arzt oder zur Ärztin gehen, dass sie sich nicht diskriminiert fühlen, dass sie sich in jedem Fall gut aufgehoben fühlen und nicht mit dem Gefühl aus der Praxis gehen, dass sie nicht ernst genommen worden sind oder dass sie aufgrund von irgendwelchen ihrer persönlichen Merkmale vielleicht nicht so gut behandelt worden sind, wie sie behandelt worden sein könnten. Das ist so grundsätzlich das, was ich mir eigentlich wünschen würde. Und dazu zählen dann auf der einen Seite viel Kommunikationstraining, viel Aufmerksamkeit darauf richten, aber auch Grundlagenforschung, die uns mehr an handfesten Informationen auch gibt, welche Faktoren berücksichtigt werden müssen, wenn wir zum Beispiel Diagnoseverfahren empfehlen, wenn wir Therapien empfehlen und so weiter.
Also wirklich ein Zusammenschluss zwischen diesen, aber wirklich aus einer Patient:innen-Perspektive, weil im Grunde genommen sind das die Menschen, für die wir das machen, würde ich mir wünschen, dass sich alle bei einem ärztlichen Besuch willkommen fühlen, akzeptiert fühlen, nicht diskriminiert fühlen und mit dem Gefühl aus der Praxis gehen, ich bin so wahrgenommen worden, wie ich bin und ich habe das Gefühl, man hat mir die bestmögliche Versorgung angeboten.
Pia: Sehr schön, gut. Dann hoffe ich, dass die ganzen Punkte, die wir angesprochen haben zu dieser Utopie oder zu dieser Vision - besser ist es keine Utopie, es ist eine Vision- hinarbeiten und zu beitragen. Und vielen Dank dir für das Gespräch. Ich habe noch viele Fragen hier auf meiner Liste, die wir nicht besprochen haben, aber ich glaube, es sprengt leider wieder mal den Rahmen.
(Intromusik im Hintergrund wird langsam lauter)
Vielen, vielen Dank dir für die spannenden Einblicke.
Sabine: Super, ja, danke dir. Hat Spaß gemacht.
Pia: Das war Heilewelt, der Podcast über positive Zukunftsvisionen in der Medizin. Vielen Dank euch fürs Zuhören. Wenn wir euch ein bisschen inspirieren konnten, freuen wir uns über eure finanzielle Unterstützung auf unserer Website oder eine Bewertung auf euren Podcast-Plattformen.
Abonniert auch gerne unsere Newsletter und folgt uns auf Instagram, wenn ihr keine neue Folge mehr verpassen wollt. In diesem Sinne, bleibt gesund, neugierig und optimistisch. Bis ganz bald.